Zweitausend Kilometer in zehn Tagen, sechs Städte in vier Ländern: Vom Maidan
ins EU-Parlament. Auf der Suche nach der Geschichte, dem Versprechen und
der Zukunft Europas.
aus DATUM 05/14 – gemeinsam mit Nina Brnada und Thomas Trescher
I. Kiew – Talking ’Bout A Revolution
Der Flug S7 4625 von Moskau-Domodedowo nach Kiew-Boryspil rollt aus. Kurz darauf hält ein Militärfahrzeug. Sieben Burschen mit automatischen Maschinenpistolen steigen aus und umstellen unsere Maschine. Die anderen Insassen scheinen sich gar nicht für die Szene zu interessieren, Männer in Anzügen und übertrieben schöne Frauen. Eher interessieren sie sich füreinander. Eine der Frauen beginnt sich zu schminken, während die ukrainischen Soldaten die Boeing 737-500 inspizieren. Surreal. Was suchen sie? Bomben? Spione? Uns?
Bang Bang, He Shot Me Down. Im Autoradio läuft eine Hip-Hop-Version des Nancy-Sinatra-Klassikers. Ein Taxi bringt uns die 20 Kilometer vom Flughafen in die ukrainische Hauptstadt, vorbei an einer russischen Lukoil-Tankstelle, einem US-amerikanischen McDonald’s, an einem Logo der österreichischen Raiffeisenbank. »Where from?«, fragt Juri, der Fahrer, und deutet auf uns. »Everything is normal in Kyiv«, sagt er. »Very normal.« Bang Bang, I Hit The Ground. Vorbei an Plattenbauten, über den Dnepr-Fluss, hinein in die Innenstadt. Auf einem hausgroßen Werbeplakat der Siberian Airlines stehen die Worte »Київ« und »Москва«, dazwischen ein Peace-Zeichen. Es sind die letzten Märztage, Russland hat die ukrainische Halbinsel Krim annektiert, im Osten des Landes kommt es zu ersten Auseinandersetzungen. Juri zeigt auf das Plakat: »That is not good.« Bang Bang, That Awful Sound.
In unserem gemieteten Appartement angekommen, legen wir unsere drei Rucksäcke ab, die Laptops und die Fotoapparate, und öffnen die Tür zum Balkon. Was für eine Szene: gegenüber ein ausgebranntes Gebäude, so groß wie ein ganzer Häuserblock. Sechs Stockwerke unter uns stehen dutzende Zelte, geschmückt mit Fahnen, vor allem der ukrainischen und jener der EU. Man sieht Barrikaden aus Reifen und Sperrmüll, Kränze und Kreuze und Gruppen bärtiger Männer, die sich bei den Minusgraden um brennende Mülltonnen scharen.
Mайдан Незалежності, der Kiewer Platz der Unabhängigkeit, Maidan. Es ist neun Uhr abends, Zeitzone +0300. Nach zwei Flügen, drei Passkontrollen und insgesamt 15 Stunden sind wir angekommen: am Beginn unserer Reise. Wir werden 2.000 Zugkilometer in zehn Tagen zurücklegen, vier Länder besuchen und sechs Städte: Kiew, Lemberg, Krakau, Dresden, Frankfurt und schließlich Brüssel. Weiterlesen